dissident desire: Ein Kunst- und Forschungsprojekt

05/07/2013 — 07/12/2013

READING TROUPE #01: PHYSICAL EDUCATION. EXERCISES IN EMBODYING DISCOURSE

Gabriel Barnfield, Creative Drama in Schools,1969.

Ein Kunst- und Forschungsprojekt von Suza Husse und Lorenzo Sandoval

Seit Juni 2013 

„How does one introduce desire into thought, into discourse, into action? How can and must desire deploy its forces within the political domain and grow more intense in the process of overturning the established order? Ars erotica, ars theoretica, ars politica.” (Michel Foucault, Introduction: Arts of Living, in: Anti-Oedipus)

In einer unabgeschlossenen Reihe von Kapiteln aktiviert das Projekt Räume für dissidentes Fühlen, Denken und Handeln. Die ersten drei Kapitel ereigneten sich zwischen Juni und Dezember 2013 bei District und in ihrer stadträumlichen Umgebung. Ausgehend von der Versammlung eines Archivs im Kapitel 0:Introducing Daydreams of Precarious Bodies umfasste das Projekt verschiedene öffentliche Veranstaltungen, Performances, eine Reihe kollaborativ entwickelter künstlerischer Produktionen und zwei Ausstellungen mit dem Ziel, einen „kritischen Werkzeugkasten“ zu erstellen.

Im Rahmen des Projekts wird „Begehren“ (desire) als hybrider Begriff hinterfragt, der sich im Spannungsfeld eines imaginativen Raums und eines kapitalistischen Mechanismus, der im endlosen Produktionskreislauf immer wieder neu erregt wird, betrachten lässt. Von der Instabilität politischer und wirtschaftlicher Verhältnisse ausgehend, legen wir dem Projekt ein erweitertes Konzept von Prekarität zugrunde, das einen Spekulationsraum für kritisches Denken und destabilisierende Praxis aus körperpolitischer Perspektive bietet. Für die Erforschung des Körpers als (ver)handelbares Objekt, in dem sich Technologie, Kapital, Ideologie, Machtstrukturen und Begehren kreuzen, bietet das Konzept der „Sometheque“ der Philosophin Beatriz Preciado eine Arbeitsbasis. [1] Als „Sometheque“ beschreibt sie das moderne Subjekt, das seinen Körper verloren hat und nur noch als durch das pharmakopornografische Regime gesteuerter Apparatus existiert. [2]

Um die gegenwärtige Prekarisierung des Körpers durch „Immigrationspolitiken und Risikomanagement, klinische Studien, pharmakologische Techniken, diagnostische Praktiken, vermittelte Narrative, diskursive Strukturen, visuelle Repräsentationen und Diskurse der Prävention, Kontrolle und Überwachung“ [3] zu untersuchen, bewegt sich dissident desire durch Wissensfelder und Strategien, die biopolitische Ordnungen und politische Körper, infrage stellen, dekonstruieren und erproben.

Dabei bildet dissident desire einen experimentellen Rahmen für die Zusammenführung von Erkenntnissen aus unterschiedlichen Bereichen – darunter Kunst, Aktivismus, Feminismus, Geschlechterforschung, Postkolonialismus, Kultur- und Politikwissenschaften, Soziologie und Philosophie – und Erfahrungen, die aus unerwartetem, oder wie es die Theoretikerin Donna Harraway nennt „situiertem“ Wissen hervorgehen. Ziel ist die Erforschung und Anregung von „Wachträumen“ eines alternativen sozialen Körpers.

Auf der Suche nach Praxen des Widersprechens/Widerstehens und dissidenten „Vorgehensweisen“ (Michel de Certeau) an Orten, an denen diese zunächst nicht erwartet werden, vollzieht dissident desire eine spekulative Bewegung: Wie kann dieses z.B. im eigenen Körper situierte Wissen möglicherweise zum Ort der Herausforderung unseres biopolitischen Zustands werden, zum Ort, an dem kritische Gegen-Narrative aufgestellt werden?

Um Wissenstransfers zwischen unterschiedlichen kulturellen Bereichen zu ermöglichen, bedient sich dissident desire Taktiken der Infiltration und Dispersion und aktiviert Begehren und Wachträume als mehrdeutige Momente zwischen Fiktion und Realität. [4] In diesem phantasmagorischen Zustand liegt das Potential, aus Wachträumen der Konfrontation und des Widerstands zu Realitätssehnsüchten werden zu lassen. Sehnsüchte nach der Präsenz des Körpers nicht mehr als Phantom sondern als fühlbare Erscheinungsform politischer Dringlichkeit.

[1] Preciado, Beatríz, Testo yonqui, Espasa, Madrid, 2008.
[2] Eine gute Kurzdarstellung von Preciados Konzept des „Sometheque“ findet sich in dem von Preciado geleiteten Studienprogramm am Museum Reina Sofia: www.museoreinasofia.es
[3] Ebd.
[4] In seinem Essay The Art of the Ridiculous Sublime – On David Lynch’s Lost Highway beschreibt Slavoj Zizek verbreitete Wachträume von amerikanischen Drohnensoldaten, die Krieg vom Computerbildschirm aus begehen. Er stellt fest, dass „Soldaten oft fantasieren, den Gegner in einer Begegnung von Angesicht zu Angesicht zu töten“ und zeigt auf, dass die Soldaten durch die Konstruktion militärischer Versionen eines sexuellen False Memory Syndromes fiktive (!) Verbindungen konstruieren, um ihren Aktivitäten Sinn beizumessen. Andererseits wird die Tatsache, dass sie Teil einer industriellen Infrastruktur sind, die ihrer menschlichen Teilhabe eigentlich nicht mehr bedarf, deutlich kompensiert. Diese Art der Videospiel-Situation lässt sich mit der Platzierung Einzelner innerhalb des pharmakopornografischen Regimes vergleichen: Die Substitution des sinnlichen Verlangens eines Körpers durch den hell leuchtenden Bildschirm inmitten der Flüsse des Kapitalaustauschs, in dem Kriegsproduktion und die Stimulation von Sex und Begehren durch eine gemeinsame wirtschaftliche Logik unvermeidlich miteinander verknüpft sind.