D’EST Screening Kapitel 8: Obscene West

02/12/2021 — 31/01/2022

Boryana Rossa, The Moon and the Sunshine, 2000. Videostill, Einkanal-Video, 6’07’’, Farbe, Ton.

Kristina Inčiūraitė, Order, 2004. Videostill, Einkanal-Video, 6’, Farbe, Ton, 4:3.

Mare Tralla, Kiss, 1996. Videostill, Einkanal-Video, 9’52’’, Farbe, Ton.

Sanja Iveković und Dalibor Martinis, Chanoyu, 1983. Videostill, Einkanal-Video, 11’, Farbe, Ton.

Vika Begalska, Welcome, 2004. Videostill, Einkanal-Video, 10’16’’, Farbe, Ton.

Artur Żmijewski, Ja i AIDS (dt. Ich und AIDS), 1996. Videostill, Einkanal-Video, 3’25’’, Farbe, Ton, 4:3.

Screening Kapitel 8: Obscene West and Flickering Love Bites

2. Dezember 2021 – 31. Januar 2022

Mit Arbeiten von Vika BegalskaKristina InčiūraitėSanja Iveković & Dalibor MartiniBoryana Rossa,Mare Tralla, Artur Żmijewski
Kuratiert von Tatiana Bogacheva

Sexuelles Begehren wird durch das Fehlen eines fetischisierten Objekts hervorgerufen. In den entwickelten, wohlhabenden kapitalistischen Gesellschaften ist die Materialität, auf die das Begehren unbewusst projiziert werden kann, allgegenwärtig, da jede Ware und jede soziale Beziehung einen Nutzen und einen Mehrwert aufweisen. Bezüglich des Übergangs von einer Verteilungswirtschaft mit spärlichen Objekten des Privatvergnügens zur kapitalistischen Produktionsweise ist ein oft übersehener Aspekt in der Analyse der sich wandelnden sexuellen Landschaft der postsozialistischen Zeit derjenige der Entlohnung.

Die ausgewählten Videoarbeiten dienen als Beispiele für die Kontingenz des Begehrens in Bezug auf soziale und wirtschaftliche Beziehungen. Die Zeit nach dem Zerfall des sozialistischen Blocks wird zu Recht als die Phase der primitiven Kapitalakkumulation in Osteuropa bezeichnet. Die „Privatisierung“, der Verkauf von Industrien an ausländische Investor*innen und der Imperativ des persönlichen Erfolgs, zeigten die Monstrosität des globalen neoliberalen Kapitalismus. In den kapitalistischen Gesellschaften ist das Phantasma des libidinösen Vergnügens auf der Stufe der primitiven Akkumulation vorhanden – unter den Bedingungen bitterer Armut ist dieses Vergnügen jedoch fast unerreichbar. Das liegt daran, dass Sex viel zu oft als Währung oder Tauschmittel für die materielle Erfüllung attraktiver Fantasien eingesetzt wird. Sex und die Anhäufung von Ressourcen sind im postsozialistischen Unbewussten so sehr miteinander verwoben, dass die Fantasien von sexuellem Vergnügen (oder vom Zugang zu einem attraktiven Körper) dem gleichen Register zugeordnet werden wie Fantasien wirtschaftlicher und politischer Macht.

Die von der totalitären Unterdrückung befreiten Körper treten als kommodifizierte und entfremdete Körper in einen weiteren gewaltsamen Kampf ein. Den Betrachter*innen dieses Screening Kapitels wird deutlich, dass Sex nicht mit Vergnügen und Glück assoziiert wird, sondern im Sinne von Unterdrückung, Gewalt und Ungleichheit negativ konnotiert ist.

In Boryana Rossas Videoperformance The Moon and the Sunshine (2000) sehen wir nur die zweideutigen Spuren des Geschlechterantagonismus: die blauen Flecken auf dem Körper der Künstlerin könnten Knutschflecken sein, aber auch Zeichen von Gewalt. Unverwechselbare Elemente positionieren das Kunstwerk eindeutig im postsozialistischen Kontext. Kristina Inčiūraitės Videoarbeit Order (2004) erzählt von einem Widerspruch zwischen der Macht, mit der Polizistinnen ausgestattet sind, und den Zwängen, die ihnen durch das System der Geschlechterbinarität auferlegt werden. Die Bilder des trockenen und kalten öffentlichen Raums verstärken diesen Widerspruch, da sie mit einem Ton unterlegt worden sind, der bei einer unschuldigen Übernachtungsparty aufgenommen worden sein könnte. Mare Tralla und Vika Begalska nehmen einen provokativen feministischen Standpunkt zu den aufkommenden Hegemonien der männlichen Kunstkritik und zum Englischen als der einzigen Sprache mit globalen Ambitionen ein. Mare Trallas Video dokumentiert eine Performance, in der sie ihre männlichen Kritiker mit Zuneigung überschüttet. Die Arbeit Kiss (1996), die noch nie international gezeigt wurde, ist sowohl ein Schlag als auch eine Ohrfeige für das aufkommende bevormundende Kunstpatriarchat, das durch den Zwang zum Erfolg entstanden ist. Die Spannung zwischen den weiblichen und männlichen Protagonist*innen in Sanja Iveković & Dalibor Martinis Videoarbeit Chanoyu (1983) weist Parallelen zu einer anderen Binarität auf – derjenigen von „Ost“ und „West“. Die feministische Kritik an der westlichen Hegemonie, die von Osteuropa aus artikuliert wird, verleiht diesem Werk seine zeitgenössische Relevanz. In Vika Begalskas Welcome (2004) wird schnell klar, dass nicht die Hierarchien der globalisierten patriarchalischen Weltordnung, sondern die weibliche Lust das Sagen hat. Begalska begibt sich bewusst in eine untergeordnete Schülerinnenrolle, die dem „Lehrer“ eine Strafvollmacht verleiht, ihn aber auch verpflichtet, ihren Befehlen zu folgen. Ja i AIDS (dt. Ich und AIDS) (1993) von Artur Żmijewski entstand zu einer Zeit, als die Existenz queerer Sexualität im öffentlichen Diskurs anerkannt und sofort als gefährliche Quelle einer Krankheit abgetan wurde. Die AIDS-Krise machte die Gewalt der autoritären Macht sichtbar, die sich als wohlwollend präsentierte, und förderte auch Allianzen zwischen den Gruppen, die willkürlich ausgeschlossen und stigmatisiert wurden.

Folglich wurden Sexualität und Geschlecht unter den Bedingungen bitterer Armut, die mit der Phase nach dem Zerfall des sozialistischen Blocks einherging, häufig als Währung oder Tauschmittel für materielle Ressourcen verwendet und in der Ökonomie der Aufmerksamkeit eingesetzt. Parallel dazu erleben wir, dass die Geschlechterbinarität als ontologisches Konzept gesehen werden kann. Wenn sich ihr immanenter Konflikt in den Beziehungen zu realen oder impliziten Anderen widerspiegelt, können Weiblichkeit und Geschlecht auch Instrumente der Rebellion und des Widerstands gegen diese unsichtbaren Hierarchien sein.

 

Das Projekt Obscene West. In Honey des Kaunas Artists’ House ist nach der Performance-/Videoinstallation Meduje (in Honey) von Eglė Rakauskaitė aus dem Jahr 1996 benannt. Es untersucht Fragen von Geschlechterrollen und Sexualität der sich wandelnden 1990er Jahre und analysiert die Erscheinungsformen der feministischen Bewegung in der litauischen Kunst und in anderen postsozialistischen Ländern. Das Projekt Obscene West. In Honey wird von Agnė Bagdžiūnaitė und Edvinas Grinkevičius kuratiert, finanziert vom Lithuanian Council for Culture.

Link zum Kapitel: https://www.d-est.com/category/online-screening-chapter-8/